Für die Stadt Wolgast ist sie weitestgehend noch
unentdecktes Terrain – die Gertrudenkapelle auf
dem Friedhof neben der Chausseestraße. Das
findet zumindest die Museumschefin Barbara Rog-
gow, die wiederum eine ausgewiesene Gertruden-
Expertin ist. Die Leiterin des städtischen Museums
in der Kaffeemühle hat über die ‚Gertrude‘, wie sie
das Bauwerk liebevoll nennt, sogar promoviert.
Einiges über die Kapelle war schon im 19. Jahr-
hundert bekannt, wie die Beschreibung von
B. Heberlein in den ‚Beiträgen zur Geschichte der
Burg und Stadt Wolgast‘ von 1892 dokumentiert:
„Außerhalb der früheren Stadt, vor dem Basteien-
thor, liegt die zweite Kirche, nach der heiligen
Gertrud genannt. Sie ist von zwölfeckiger Gestalt
mit nur einer Eingangstür. In der Mitte des Innen-
raumes befindet sich ein starker runder Pfeiler, an
welchem oben 24 Gewölbgurten angefügt sind,
aus welchen heraus sich ein prachtvolles Stern-
gewölbe entwickelt, das sich rund um den Pfeiler
herumzieht. Die Kapelle ist wohl überhaupt als
Grabkirche und vielleicht als eine Nachbildung
der Kirche des heiligen Grabes in Jerusalem
anzusehen.“
War die Verbindung der Wolgaster ‚Gertrude‘
zur heiligen Grabkirche in Jerusalem damals noch
eine Vermutung, so ist sich Barbara Roggow
heute sicher, dass der einstige Pommernherzog
Watislaw IX. um 1420 die Kapelle in seiner Heimat-
stadt bauen ließ und zwar ziemlich originalgetreu
nach dem Vorbild der Grabkirche Jesu in Palästina.
Dorthin soll der Herzog, vermutlich inkognito,
zuvor gepilgert sein und die Idee mitgebracht
haben.
„Ursprünglich gab es 31 Gertrudenkapellen in
Pommern. Sie wurden nach der Heiligen Ger-
trude von Neville benannt, der Schutzpatronin
der Wanderer, Fremden und Pilger“, erklärt die
Historikerin. Sie alle lagen außerhalb der Städte
und wurden als Herbergen genutzt für Fremde,
die nach Schließung der Stadttore die Städte
erreichten. Hier fanden sie eine Herberge und
einen Ort für Gebete. Nach der Reformation
und durch die zahlreichen Kriege wurden fast alle
Gertrudenkapellen zerstört, lediglich in Köslin im
heutigen Polen steht noch eine achteckige Kapelle
sowie die zwei einzigen zwölfeckigen in Rügen-
walde, ebenfalls Polen, und Wolgast. Sie alle
waren vermutlich herzogliche Stiftungen.
Jüngere Forschungen ergaben, dass die Gertru-
denkapelle in Wolgast Endpunkt eines Kreuzwe-
ges war, der in der Petrikirche begann. Von der
Weglänge und den insgesamt sieben Stationen
glich dieser dem Kreuzweg Jesu in Jerusalem.
Die Pfarrkiche St. Petri entsprach demnach dem
Haus des Pilatus, am Rathaus ist der Ort, an dem
Christus das Kreuz hebt, am einstigen Bauwieker
Tor in der heutigen Wilhelmstraße half Simon
von Syrene Jesus beim Tragen des Kreuzes. Das
Steintor in der heutigen Steinstraße war das
Gegenstück zur Steinstraße in Jerusalem, wo
Christus verurteilt und aus der Stadt getrieben
wurde.
An der nächsten Station, der St. Jürgen-Kirche,
die als Pestkirche außerhalb der Wolgaster
Stadtmauer stand, wurde Jesus zur Hinrich-
tung getrieben und seiner Kleider beraubt. Der
Paschenberg schließlich stellt den Berg Golgatha
dar, der nördlich des heiligen Grabes lag, das
in Wolgast ja bekanntlich durch die Gertruden-
kapelle verkörpert wird. Verblüffend ist, dass der
Wolgaster Kreuzweg fast exakt der Strecke in
Jerusalem entspricht. Das Original maß 1.650
Meter, das Wolgaster Pendant 1.661 Meter, also
rund einer römischen Meile.
Wie Barbara Roggow weiter ausführt, gibt es seit
einigen Jahren zu Ostern eine Prozession, die von
der evangelischen und der katholischen Kirchen-
gemeinde veranstaltet wird. „Der Glaube ist pure
Geschichte“, sprudelt es aus der Museumschefin
heraus. Sie engagiert sich wie viele Bürger für den
Erhalt und die nötige Sanierung der Gertruden-
kapelle. „Es geht um den Spagat
zwischen pietätvollem Umgang und
der Öffnung nach außen“, so die
Wolgasterin.
Der Förderverein ‚St. Gertrud in
Wolgast‘ möchte die Kapelle bis
2020/21, also zum 600-Jahr-Jubiläum,
innen restaurieren lassen und
als Konzertkirche nutzen. Dafür
benötigt das Gebäude aber einen
separaten Bau mit Toiletten und
einem Nebenraum. Darüber hinaus
soll dann ein Weg im Abstand von
15 Metern herumführen, von dem
aus ein freier Blick auf den Rund-
bau besteht.
Die massive Mittelsäule wird ergänzt durch ein Sterngewölbe,
das sich drei- und siebenstrahlig zusammenfügt und die Decke
ziert (Aufnahme von 1935).
Vom Original inspiriert
Die St. Gertruden-Kapelle verbindet Wolgast mit Jerusalem
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