Background Image
Previous Page  60-61 / 108 Next Page
Information
Show Menu
Previous Page 60-61 / 108 Next Page
Page Background

Gestatten …?

Ralf Betge

Rohrdachdecker aus Benz

R

alf Betge und seine Jungs steigen

den Usedomern wortwörtlich

aufs Dach. Als Rohrdachdecker

haben sie Sommer wie Winter gut

auf der Insel zu tun, denn immer

mehr Privatleute und touristische Unternehmen

entscheiden sich dafür, ihre Gebäude passend

zur Region mit

Schilfrohr – auch

Reet genannt –

einzudecken. Das

Rohrdach gehört

traditionell zu

Norddeutschland

und zählt sogar

zum immateriellen

Kulturerbe der

UNESCO.

Die ersten

Rohrdächer hat

es nachgewiesen

schon 4000 Jahre vor Christus gegeben und

somit zählt die Rohrdachdeckerei zu den ältesten

Handwerkskünsten beim Bau eines Hauses. Wie

schon vor hunderten Jahren landen Bund für

Bund, insgesamt ein paar Tausend, schwungvoll

geworfen bei den Kollegen oben auf dem Dach-

stuhl. Nach und nach wird das ganze Dach so

eingedeckt, gebunden und anschließend kraftvoll

in die richtige Form ‚getrieben‘, also festgestoßen.

Die geraden Kanten oder akkuraten Schrägen so ei-

nes Rohrdaches, die man vielerorts bewundert, sind

keinesfalls geschnitten, sondern geklopft. Mit einer

Messlatte wird außerdem überprüft, ob das Dach

auch überall gleich dick ist. Hier ist höchstes fachli-

ches Können sowie jede Menge Erfahrung gefragt.

Diese schweißtreibende Arbeit üben Ralf Betge

und seine sieben Kollegen in der Regel von März

bis Oktober aus. Im Frühjahr und Herbst geht es

außerdem zur Heidemaht nach Niedersachsen

oder Brandenburg, denn das Kraut der Heide

wird oft als Abschluss der Dachfirste benötigt.

Im Januar und Februar ist er außerdem damit

beschäftigt, eigenes Rohr zu schneiden. Seine

Pachtfelder liegen in den breiten Schilfgürteln am

Achterwasser bei Balm und in Ückeritz. Etwa 50

Prozent des Schilfrohrs, die Betge in seiner Firma

verwendet, kommen hier aus der Region. Die

andere Hälfte wird aus Rumänien und der Türkei

importiert, aber auch von der Qualität her ist das

weitgereiste Rohr sehr hochwertig.

So ein Rohrdach hält 40 bis 50 Jahre lang, wenn

es durch seine Besitzer gut gepflegt wird. Bislang

hat Ralf Betge hier auf Usedom 150 bis 200

Rohrdächer gedeckt, davon allein im Ostseebad

Karlshagen etwa 50. Die Bandbreite reicht dabei

vom kleinen historischen Fischerhaus am Pee-

nestrom bis zum großzügigen neuen Wohnhaus

im Fachwerkstil inmitten der hügeligen Usedomer

Schweiz. Ganze Ferienhaussiedlungen begrüßen

die Gäste der Urlaubsinsel Usedom im charman-

ten nordischen Reetdach-Look.

Betges Passion für die Rohrdächer geht auf seinen

Vater zurück, der war bereits in der 1980er-Jahren

der erste selbstständige Rohrdachdecker auf der

Insel. Sohn Ralf kam dann 1991 im Familienbe-

trieb dazu. Noch heute kümmern sich Vater und

Rohrdachdeckerei

Ralf Betge

Mühlenweg 4

17429 Benz

Tel.: +49 (0)38379 229 59

Sohn gemeinsam darum, dass das selbst geerntete

Rohr gereinigt, gekämmt und gebündelt wird.

Wie es sich für einen Handwerker gehört, ist

er ehrlich und gibt unumwunden zu, dass so ein

gutes Rohrdach schon seinen Preis hat, der den

eines herkömmlichen Ziegeldaches um einiges

übersteigt. Doch die Investition lohnt sich, denn

Rohr ist ein nachwachsender Rohstoff, somit

ökologisch und auch energieeffizient. Es klimati-

siert die Häuser auf ganz natürliche Weise. Und

nicht zu verachten ist die Bedeutung, die es als

ein Stück norddeutscher Lebenskultur hat. Früher

war Rohr oder sogar Stroh die Dachbedeckung

der armen, einfachen Leute. Heutzutage be-

gründet dieses uralte Handwerk das Bild und die

Traditionen eines ganzen Landstrichs. Auch für

den Rohrdachdecker Betge sind die Schilfdächer

weit mehr als ein Job. Mit seiner Arbeit gibt er

der Insel ein Gesicht und ihren ganz individuellen

Charakter. Insulaner und Inselgäste fühlen sich

wohl in seinen mit Reet gedeckten Häusern,

erfreuen sich an ihrem Anblick und fühlen sich im

Einklang mit der Natur, der Geschichte sowie den

Traditionen der Region.

Das

Werk

der

Hände

Fotos Seite 52–59: ©Dirk Bleyer und Aneta Szydlak (16), ©Archiv UTG/Mareike Klinkenberg (1)

58 | Usedom Magazin

59 | Usedom Magazin