Gestatten …?
Ralf Betge
Rohrdachdecker aus Benz
R
alf Betge und seine Jungs steigen
den Usedomern wortwörtlich
aufs Dach. Als Rohrdachdecker
haben sie Sommer wie Winter gut
auf der Insel zu tun, denn immer
mehr Privatleute und touristische Unternehmen
entscheiden sich dafür, ihre Gebäude passend
zur Region mit
Schilfrohr – auch
Reet genannt –
einzudecken. Das
Rohrdach gehört
traditionell zu
Norddeutschland
und zählt sogar
zum immateriellen
Kulturerbe der
UNESCO.
Die ersten
Rohrdächer hat
es nachgewiesen
schon 4000 Jahre vor Christus gegeben und
somit zählt die Rohrdachdeckerei zu den ältesten
Handwerkskünsten beim Bau eines Hauses. Wie
schon vor hunderten Jahren landen Bund für
Bund, insgesamt ein paar Tausend, schwungvoll
geworfen bei den Kollegen oben auf dem Dach-
stuhl. Nach und nach wird das ganze Dach so
eingedeckt, gebunden und anschließend kraftvoll
in die richtige Form ‚getrieben‘, also festgestoßen.
Die geraden Kanten oder akkuraten Schrägen so ei-
nes Rohrdaches, die man vielerorts bewundert, sind
keinesfalls geschnitten, sondern geklopft. Mit einer
Messlatte wird außerdem überprüft, ob das Dach
auch überall gleich dick ist. Hier ist höchstes fachli-
ches Können sowie jede Menge Erfahrung gefragt.
Diese schweißtreibende Arbeit üben Ralf Betge
und seine sieben Kollegen in der Regel von März
bis Oktober aus. Im Frühjahr und Herbst geht es
außerdem zur Heidemaht nach Niedersachsen
oder Brandenburg, denn das Kraut der Heide
wird oft als Abschluss der Dachfirste benötigt.
Im Januar und Februar ist er außerdem damit
beschäftigt, eigenes Rohr zu schneiden. Seine
Pachtfelder liegen in den breiten Schilfgürteln am
Achterwasser bei Balm und in Ückeritz. Etwa 50
Prozent des Schilfrohrs, die Betge in seiner Firma
verwendet, kommen hier aus der Region. Die
andere Hälfte wird aus Rumänien und der Türkei
importiert, aber auch von der Qualität her ist das
weitgereiste Rohr sehr hochwertig.
So ein Rohrdach hält 40 bis 50 Jahre lang, wenn
es durch seine Besitzer gut gepflegt wird. Bislang
hat Ralf Betge hier auf Usedom 150 bis 200
Rohrdächer gedeckt, davon allein im Ostseebad
Karlshagen etwa 50. Die Bandbreite reicht dabei
vom kleinen historischen Fischerhaus am Pee-
nestrom bis zum großzügigen neuen Wohnhaus
im Fachwerkstil inmitten der hügeligen Usedomer
Schweiz. Ganze Ferienhaussiedlungen begrüßen
die Gäste der Urlaubsinsel Usedom im charman-
ten nordischen Reetdach-Look.
Betges Passion für die Rohrdächer geht auf seinen
Vater zurück, der war bereits in der 1980er-Jahren
der erste selbstständige Rohrdachdecker auf der
Insel. Sohn Ralf kam dann 1991 im Familienbe-
trieb dazu. Noch heute kümmern sich Vater und
Rohrdachdeckerei
Ralf Betge
Mühlenweg 4
17429 Benz
Tel.: +49 (0)38379 229 59
Sohn gemeinsam darum, dass das selbst geerntete
Rohr gereinigt, gekämmt und gebündelt wird.
Wie es sich für einen Handwerker gehört, ist
er ehrlich und gibt unumwunden zu, dass so ein
gutes Rohrdach schon seinen Preis hat, der den
eines herkömmlichen Ziegeldaches um einiges
übersteigt. Doch die Investition lohnt sich, denn
Rohr ist ein nachwachsender Rohstoff, somit
ökologisch und auch energieeffizient. Es klimati-
siert die Häuser auf ganz natürliche Weise. Und
nicht zu verachten ist die Bedeutung, die es als
ein Stück norddeutscher Lebenskultur hat. Früher
war Rohr oder sogar Stroh die Dachbedeckung
der armen, einfachen Leute. Heutzutage be-
gründet dieses uralte Handwerk das Bild und die
Traditionen eines ganzen Landstrichs. Auch für
den Rohrdachdecker Betge sind die Schilfdächer
weit mehr als ein Job. Mit seiner Arbeit gibt er
der Insel ein Gesicht und ihren ganz individuellen
Charakter. Insulaner und Inselgäste fühlen sich
wohl in seinen mit Reet gedeckten Häusern,
erfreuen sich an ihrem Anblick und fühlen sich im
Einklang mit der Natur, der Geschichte sowie den
Traditionen der Region.
Das
Werk
der
Hände
Fotos Seite 52–59: ©Dirk Bleyer und Aneta Szydlak (16), ©Archiv UTG/Mareike Klinkenberg (1)
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