

Auf breiten Schwingen gleitet ein mächtiger Greifvogel
dicht über der Wasseroberfläche des Peenestroms dahin.
In seinen Fängen trägt er einen Fisch.Vor einer vertrock-
neten Schwarzerle, die auf einer Strecke von mehreren
hundert Metern die einzige natürliche Erhebung im breiten
Schilfgürtel ist, steilt er in mühelosem Flug auf.Wenig später
umklammern gelbe Fänge mit schwarzen Krallen den
obersten Ast der Erle. Mit stechendem Blick aus gelben
Augen beobachtet der majestätische Greifvogel die Um-
gebung. Es ist ein Seeadler, der diesen Baum nicht zufällig
angesteuert hat. Seeadler besitzen feste Ruheplätze in ihren
Revieren, die sie täglich aufsuchen. In einigen Gebieten, in
denen die mächtigen Jäger nicht gestört werden, kann man
nach ihrem Erscheinen fast die Uhr stellen.
DieWahrscheinlichkeit, an Fluss, Haff oder Meer einen
Seeadler in freier Wildbahn zu beobachten, ist auf Usedom
besonders hoch. Deshalb ist Deutschlands zweitgrößte
Insel bei Natur- und Vogelfreunden sehr bliebt. Usedom
besitzt nahezu den gleichen Seeadlerbestand wie die große
Inselschwester Rügen – ist aber nur etwa halb so groß. Das
wiederum erhöht die Chancen auf eine Begegnung mit
dem König der Lüfte erheblich. An Peenestrom und Ach-
terwasser, im Lieper Winkel, in der Neppermminer Wiek
oder am Gothensee – die Liste jener Orte auf Usedom,
an denen man den Königen der Lüfte in freier Wildbahn
begegnen kann, ist lang. Mit großer Sicherheit kann man
Seeadler imWinter auch an der Zecheriner Brücke beob-
achten.
Das war nicht immer so, denn um 1900 waren die mächti-
gen Seeadler in Mecklenburg-Vorpommern fast ausgerot-
tet. Stellte man den großen Greifvögeln früher mit Büchse,
Blei und Falle nach, waren es Mitte der 1960er Jahre vor
allem Insektenschutzmittel, die sich als „vermeintliches
Wundermittel“ der Forst- und Landwirtschaft tonnenweise
über deutsche Landstriche ergossen. Mit verheerenden
Folgen für die heimische Tier- und Pflanzenwelt. Seeadler
undWanderfalken wurden unfruchtbar oder legten dünn-
schalige und instabile Eier, die sie beim Brüten zerdrückten.
Mitte der 1970er Jahre erkannte der Mensch, dass diese
Umweltgifte auch in seinen Nahrungskreislauf gelangen.
Nach demVerbot von DDT und PCB sowie der Einrich-
tung von Horstschutzzonen erholten sich die heimischen
Seeadlerbestände recht schnell. Heute ziehen wieder mehr
Liebevoll kümmert sich das große Seeadlerweibchen um den zerbrechlich wirkenden Nachwuchs im Horst.
Die Nester der Seeadler werden über viele Jahre genutzt und können mehrere Zentner schwer werden.
Seeadler leben amWasser und erbeuten mit Vorliebe Fische, die krank oder tot an der Oberfläche treiben. Der Fischreichtum in Usedoms
Gewässern erklärt den hohen Seeadlerbestand auf Deutschlands zweitgrößter Insel.
Der Seeadler:
größter Adler Europas
bis zu 2,60 Meter Flügelspanne
bis zu sieben Kilogramm schwer
als 700 Brutpaare ihre Jungen in Deutschland auf – rund
die Hälfte davon nistet in Mecklenburg-Vorpommern.
Die vielfältigen und reich gegliederten Landschaften der
Insel Usedom zeigen eine deutliche Zweiteilung. Zwischen
Außenstrand und Binnenküste liegen zahlreiche bewaldete
Höhenrücken und hügeliges Ackerland.Vor und zwischen
diesen herausragenden „Hochgebieten“ erstrecken sich
ausgedehnte, nur wenig über dem Meeresspiegel aufragen-
de, völlig ebene Flächen – sandige Areale, oft weiträumig
von bewaldeten Dünen bedeckt. Diese verschiedenen
Landschaftsformen – auf engem Raum verteilt – sowie
die hohe Dichte an Seeadlerbrutpaaren zeugen von der
Einmaligkeit Usedoms.
Die hügeligen Gebiete Usedoms entstanden während der
Eiszeit, wurden von Gletschern und Schmelzwässern auf-
geschüttet. Die flachen Areale dagegen sind Bauwerke des
Meeres, die erst Jahrtausende später entstanden. Erst vor
rund 7.000 Jahren drang das Meer langsam in den heutigen
vorpommerschen Küstenraum ein. Ursache dafür war der
weltweite nacheiszeitliche Anstieg des Meeresspiegels. Er
führte zur Überflutung der tiefer gelegenen Gebiete an
der Küste des Litorinameeres – demVorläufer der Ostsee.
Dabei überflutete Salzwasser schließlich auch alle niedrig
gelegenen Areale zwischen den Moränenhügeln im Gebiet
der heutigen Insel Usedom.
Durch die abwechslungsreichen Landschaften an Achter-
wasser, Peenestrom und Stettiner Haff beherbergt Usedom
eine vielfältige, einzigartige und in großenTeilen schützens-
werte Tier- und Pflanzenwelt. Nicht umsonst wurden
die Insel und ein breiter angrenzender Gewässerstreifen
zum „Naturpark Insel Usedom“ erklärt. Mehr als manche
andere deutsche Insel bietet Usedom die Möglichkeit für
besondere Naturentdeckungen und -erlebnisse. Dabei
kann man am Peenemünder Haken nicht nur Seead-
lern, sondern auch zahlreichenWat- undWasservögeln
begegnen – beispielsweise Austernfischern, Säbelschäblern,
Brandgänsen und Singschwänen. Die Vogelinseln Böhmke
undWerder in der Nepperminer Wiek beherbergen eine
der letzten großen Lachmöwenkolonien und am Gothen-
see finden sich seltene Moore. Der mächtige Seeadler wird
Sie auf Ihren Touren begleiten.
Fotos Seite 24–27: Rico Nestmann (2); Karsten Diedrich;Aneta Szydlak
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