

22 | Mythos
Vineta
23 | Mythos
Vineta
Da sitzt er auf dem Streckelsberg und betrachtet aus dem
Meer ragende Steinblöcke – das müssen die Überreste von
Vineta sein, ist er überzeugt. Hier zerschellen die Schiffe,
hier walten Zauberkräfte böser Mächte. Die Person, die
hier um 1535 sitzt, ist Thomas Kantzow, ein anerkannter
Historiker, der glaubt, nun den letzten Beweis für die
Existenz Vinetas gesehen zu haben. Schon im Jahre 965
schreibt der weltreisende Kaufmann Ibrahim Ibn Jakub über
diese Stadt, später macht es Adam von Bremen in der um
1068 erschienenen „Hamburgischen Kirchengeschichte“
schließlich amtlich:Vineta ist eine hochbedeutende Stadt
und vielbesuchter Mittelpunkt des Verkehrs. Sie wird von
Slawen, Barbaren, Griechen und Sachsen bewohnt.Weiter
schwärmt die Chronik von der Gastfreundlichkeit und dem
Reichtum und erklärt, wo die Stadt genau liegen könnte.
Hat Thomas Kantzow sie, genauer gesagt deren Überreste,
nun gesehen? Ein Trugschluss, denn diese Steine umschlos-
sen niemals ein Haus. Jedoch erzählt man sich immer wie-
der von der reichen Stadt Vineta und ihrem Untergang auf
der Insel Usedom. In abendlichen Runden, wo das Brot für
viele Münder reichen musste, sprach man von den Kindern
im reichen Vineta, die mit Brot gewaschen worden sein
sollen. Man erzählte sich, die Vineter hätten alles im Über-
fluss gehabt und seien fleißige, geschickte Leute gewesen;
dennoch ist die Stadt untergegangen. Die Gründe kennt
man nicht. In der Sage schwingt Häme mit: Für eine einzige
Kupfermünze hätten diese Reichen alles hergegeben, so
hieß es. Dahinter verbarg sich eineWarnung vor ausufern-
dem Reichtum – den Armen zumTrost.
Dieses Vineta hat sich tief eingeprägt, nicht nur auf der Insel,
wo man allerorten den Namen „Vineta“ für Straßen, Apo-
theken, Hotels oder gar Baufirmen findet. Insbesondere die
Kunst hat sich Vinetas angenommen. Nicht nur das Gedicht
vonWilhlem Müller, das Brahms vertont hat, sondern
auch Günter Grass griff in „Die Rättin“ das Thema auf. Im
Polnischen wurde der Mythos zu einer Inspiration für sechs
Opern und sogar die Puhdys rockten über Vineta. Auf der
Insel Usedom nahm sich die Vorpommersche Landesbühne
des Themas an und versucht seit fast zwanzig Jahren in
einer großen Open-Air-Show auf der Zinnowitzer Ostsee-
bühne zu klären, warum die Stadt versank. In Trilogien wagt
sie sich an Deutungen: Mal achteten die Vineter die Künste
nicht – es folgte der Untergang! Dann frevelten sie an der
Natur – wiederum war die Konsequenz der Untergang!
Schließlich ging die Geschichte tief in die Gesteinswelten,
wo das Gold zu Hause ist – aber Zank und Streit darüber
brachte ihnen nur Untergang.
In der aktuellen Trilogie legten sie den Armen gegenüber
kein gutesVerhalten an denTag. Diesmal folgte nicht der
Untergang, sondern derWeg führte in den Himmel. Märchen-
figuren und Götter sollen es wieder richten. Es ist eine
leichte, amüsante Theatershow mit witzigen Anspielungen
auf das Heute sowie Tänzen und Musik, die eigens dafür
geschaffen wurden. Licht, Laser, sogar Pyrotechnik – gerade
recht für einen schönen Sommerabend. Es spielen Schau-
spieler der Vorpommerschen Landesbühne und Eleven der
Theaterakademie Vorpommern.
Es bleibt die Frage, gibt es denn gar nichts Handfestes, das
an Vineta erinnert? Es bleiben der Blick von Koserow bei
spiegelglatter See auf dasVineta-Riff, der fantasiebeflügelnde
Aufstieg zum Streckelsberg, auf dem einst Thomas Kantzow
gesessen hat; und das „Kreuz von Vineta“ in der Koserower
Kirche. Fischer zogen es einst aus dem Meer, doch es hatte
nichts mit der Stadt zu tun, denn das Christentum befand
sich erst imWerden, als Vineta unterging. Und doch: Auf
der polnischen Seite der Insel, inWollin – da könnte Vineta
tatsächlich gelegen haben. Hier gruben polnische Forscher
in den 1950er Jahren eine Stadt aus, die an die 10.000
Einwohner zählte und um das Jahr 1000 existierte. Aber
letztlich bleibt Vineta ein Mythos.
Vineta
Mythos und Inspiration zugleich
Text
Martina Krüger
Illustration
Hannelore Schneider
Amanda Fiedermann als Göttin Minerva in
„Vineta – Die Hexenwette“ aus dem Jahr
2012. Im Jahr 2014 heißt das Stück „Vineta
– Die Märchenverschwörung“ und wird vom
26. Juni bis 30.August auf der Ostsee-Bühne
Zinnowitz aufgeführt.
Fotos Seite 22 & 23:Archiv UTG; Martina Krüger