

24 | Usedom Magazin
25 | Usedom Magazin
Nach einer stürmischen Nacht scheuchte uns
meine Großmutter oft frühmorgens aus dem
Haus. „Am besten ist es, wenn die Sonne gerade
aufgeht“, sagte sie immer.Wir schlüpften dann aus
unseren Sandalen,wateten durch die Brandung und
ließen uns den Schlaf aus den Gliedern wehen. Die
Augen waren konzentriert nach unten gerichtet,
auf der Suche nach den Schätzen, die uns die Ost-
see preisgeben würde.
Großmutter deutete auf Treibgut am Strand, kleine
Holzstückchen, Zeugen der stürmischen Nacht.
„Schaut her“, sagte sie, „dieses schwarze
Holz benimmt sich wie
Bernstein.Woes
angeschwemmt wird, da ist auch der
Bernstein nicht weit.“ Oft wurden wir
fündig. Kleine Stückchen Bernstein
zwar nur, aber immerhin: unser
Schatz, selbst gefunden. „Seht ihr“,
freute sich Großmutter mit uns,
„jedeWelle neues Gold.“
Keines der Fundstücke jedoch
war so groß wie ihr Anhänger,
den sie am Hals trug und in dem
ein Insekt eingeschlossen war.
Manchmal hielt sie ihn an mein
Ohr und forderte mich auf, genau
hinzuhören. „Verstehst du, was die
Mücke darin sagt?“ Ich war überzeugt, ein
leises Wispern aus dem Stein zu hören und war
enttäuscht, dass ich es nicht genau verstand. „Sei
nicht traurig“, lächelte sie dann, „seine Sprache ist
alt, zu alt für uns.“
Recht hatte sie: Bernstein entstand, als die Dino-
saurier noch ihre Runden drehten. Auch wenn er
es im Namen trägt – ein Stein ist das Gold der
Ostsee jedoch keinesfalls. Es ist ein fossiles Harz,
das vor 25 bis 70 Millionen Jahren aus Bäumen
floss und sich im Laufe der Jahre unter hohem
Druck verfestigte.
Doch nicht alles, was aussieht wie Bernstein, ist es
auch. Und so machten wir mit unseren Fundstü-
cken einen einfachen Test: In Süßwasser geht Bern-
stein unter, in Salzwasser hingegen schwimmt es. So
konnten wir rund geschliffene Glasscherben von
Kunststoff unterscheiden.Vorsicht ist bei Phosphor-
resten aus dem ZweitenWeltkrieg geboten, die
auch zuweilen angeschwemmt werden: Sie könnten
sich von selbst entzünden. Daher empfiehlt es sich,
das Gefundene in einem Beutel zu transportieren
und nicht in der Hosentasche.
Für meine Großmutter war Bernstein nicht nur
dekorativ, sie schwor auch auf den gesundheitli-
chen Effekt.War eines ihrer Enkel wieder mit
einer Bronchitis geschlagen, so legte sie ihm
ihre Kette auf die Brust. Ob wirklich das
versteinerte Harz oder doch dieWickel
meiner Mutter halfen, sei dahingestellt.
Tatsächlich wurde Bernstein jahrhun-
dertelang als Medikament genutzt.
Schon die Heilige Hildegard empfahl
ihn als probates Mittel gegen eine
ganze Reihe von Erkrankungen und
Beschwerden wie z.B. Magenbe-
schwerden oder Blasenleiden. Auch
die Ritter vom Deutschen Orden
glaubten daran, vor allem aber an
seinen gewinnbringenden Nutzen.
Der Orden untersagte den Handel und
schaffte sich so ein lukratives Monopol.
Auch heute noch findet Bernstein in der Natur-
heilkunde Anwendung. Als Pulver wird es Salben
beigemengt und soll bei Allergien und Akne des-
infizierend wirken. Bernstein-Schnaps – inWodka
eingelegter Rohbernstein – wird innerlich bei
Magen-Darm-Beschwerden empfohlen, äußerlich
bei Rheuma oder Zerrungen. Als Bernsteinöl, das
durch Trockendestillation hergestellt wird, soll es
die Blutzirkulation verbessern und Muskelschmer-
zen lindern. Das Bernstein Medical Spa im Ostsee-
bad Koserow z.B. bietet Ganzkörper-Massagen mit
Bernsteinöl an. Meiner Großmutter hätte das sicher
gefallen. Sie sagte immer: „Wer heilt, hat recht.“
Text
Clemens Glade
„Sei nicht traurig“, lächelte sie dann,
„seine Sprache ist alt, zu alt für uns.“
Noch mehr Bernstein
auf Usedom
Bernstein-Ausstellung im
Museum der
Historischen Gesellschaft
Zinnowitz:
Hotel Preussenhof
Dünenstraße 10
17454 Zinnowitz
Bernstein Medical Spa
Hauptstraße 58
17459 Koserow
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