

Doch weiter führt mein Weg. Gen Süden. Und die Welt
wird wieder ruhig. Nur leise klingen die Geräusche der
Autos von der fernen B110 an meine Ohren. Als würden
die Reifen den Asphalt nach dem kurzen Regenschauer
von heute Morgen wie große Gummihandtücher trocken
rubbeln. Der Weg endet abrupt vor einem großen
Kornfeld. Mein limbisches System meldet leise Irritation,
aber Schlaufuchs Neocortex übernimmt das Wort: „Such‘
den gelben Pfeil! Oder die blaue Muschel! Egal was, aber
such‘! “ Ich bitte um Entschuldigung. Da ist er wieder, der
doch eigentlich auf solch einem Weg auszuschaltende Job.
Aber siehe da, mitten im Kornfeld prangt auf einem Mast
ein leuchtend gelber Pfeil. „Da hindurch?“, frage ich mich
und zögere. Als allerdings hinter mir Hundegebell und ein
schimpfender Bass ertönen, mahnt eine Stimme in mir:
Kopf einziehen und Schrittzahl erhöhen!
Geschafft! Vorbei geht es nun am Zweiradmuseum und
am Wisentgehege, durch einen fast unheimlich stillen
Wald in das beschauliche Örtchen Gummlin und weiter
nach Stolpe. Ich fürchte, ich werde nie eine richtige
Pilgerin. Denn Stolpes Kirche verliert sofort den Wettbe-
werb gegen die gemütliche Landbäckerei des Dorfes. Mein
seltsames Gefühl in der Magengegend namens Hunger ist
da wohl doch mächtiger als mein Streben hin zu den
kulturellen Höhepunkten meines Abenteuers. Im Bäcke-
rei-Garten gibt es unter herrlich Schatten spendenden
Bäumen den köstlichsten Blechkuchen. Mit fetter Butter.
Wie früher bei der Oma. Wenn das die Pilger noch hätten
erleben dürfen!
Frisch gestärkt geht’s auf nach Usedom. Dort allerdings
erliege ich dem Wahrheitsgehalt alter Weisheiten: „Traue
nie deiner Wanderkarte!“ Fazit: Verpilgert! Negative
Wirtschaftsplanbilanz in Form vergeudeter Pilgerenergie.
Das hab ich nun von meinem Planübererfüllungssyndrom.
Nix als Stress. Aber zum Pilgern nutzt man schließlich kein
Navi. Wo bleibt denn da das Abenteuer? Ein bisschen
Nervenkitzel gehört doch dazu.
Aber was nun? In Usedom wimmelt es nur so von gelben
Pfeilen. Allerdings steht auf jedem das Wort „Umleitung“.
Von blauen Muscheln keine Spur. Der auf der Wanderkar-
te ausgewiesene Weg wird durch ein Schweinegatter
versperrt. Die nächste Querstraße. Sackgasse. Ärger!
Zurück. An einem Gartenzaun lehnt ein – geschätzte
hundert Jahre alter – Herr. Gekleidet in ein Spee-gewa-
schenes Baumwollkittelgewand in leuchtendem Grau
made in GDR, auf dem Kopf eine Fischermütze beobach-
tet er wort- und grußlos meine Irrläufe. Ganz entgegen
der Pilgerart entscheide ich mich nach einigem Hin und
Her meinerseits, ihn freundlich nach dem Fußweg nach
Zecherin zu fragen. Nix. Nach gefühlten zehn Stunden
kratzt er sich immerhin am Kopf. Es lebt also! Immer noch
schweigend betrachtet er mich nachdenklich und meint
mitleidig: „Min Deern, aber doch nech zu Fuß!“ Dann weist
er mir den Weg. Zur Bushaltestelle! Danke fürs Gespräch.
Ich will nur noch raus aus der Stadt und laufe querfeldein
Richtung Stettiner Haff. Und da, auf einer Usedom-Lobes-
hymnentafel strahlt mich die Muschel auf blauem Unter-
grund an. Auf diese Strapaze gönne ich mir erst einmal
eine halbe Flasche Mineralwasser medium versetzt mit
Ferrum phosphoricum. Gegen Muskelkater, den ich
langsam zu fühlen beginne. Links das Haff, rechts unendlich
weite Felder und sonst nichts. Denn auf einem Pilgerweg
Insel Usedom
Peenemünde
Karlshagen
Trassenheide
Wolgast
Zinnowitz
Koserow
Seebad Bansin
Seebad Heringsdorf
Seebad Ahlbeck
Swinemünde
Kamminke
Zirchow
Stolpe
Rankwitz
Usedom
Zecheriner Brücke
Karnin
Lütow
Via Baltica
DieVia Baltica ist mit 770 Kilometern der
längste der drei norddeutschen
Jakobswege. Er führt von der deutsch-
polnischen Grenze über Kamminke,
Stolpe und Usedom nach Greifswald,
Rostock, Lübeck, Hamburg und Bremen
bis nach Osnabrück und Münster. Die
Pilgerroute stellt zugleich die Brücke
zwischen den baltischen Ländern und
dem spanischenWallfahrtsort Santiago
de Compostela dar.
Immer wieder durchWiesen und Felder unterbrochen, führt die Pilgerroute der Via Baltica unter
anderem an Stolpe (siehe oben) und der Stadt Usedom entlang.
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