Sie haben im Frühjahr 2015 den
Usedomer Literaturpreis für Ihren
Roman ‚Sieben Sprünge vom Rand
der Welt‘ erhalten. Was bedeutet
Ihnen diese Auszeichnung?
Diese Auszeichnung ist mir
sehr wichtig. Der Roman betrachtet
deutsch-polnische Geschichte im 20.
Jahrhundert. Er ist ein Plädoyer für
eine lebendige, offene Nachbarschaft
– im Bewusstsein unserer geteilten
Geschichte und der aus ihr resultie-
renden Spannungen. Dass das auf
Usedom erkannt und anerkannt wird,
wo man im Alltag mit eben diesen
Fragen zu tun hat, hat mich beson-
ders gefreut.
‚Sieben Sprünge vom Rand der
Welt‘ trägt autobiografische Züge.
Sie verarbeiten darin die Flucht und
Vertreibung Ihrer Großeltern väter-
licherseits aus Schlesien und den
Neuanfang in München. Wie haben
Sie diesen ‚Rucksack der Geschichte‘
in Ihrer eigenen Familie erlebt?
Ich hatte das Gefühl der Wur-
zellosigkeit. Mein Vater stammt aus
Schlesien, meine Mutterfamilie aus
Bayern. In dieser Konstellation bin ich
aufgewachsen mit dem Gefühl, nur
zur Hälfte dorthin zu gehören, wo
ich angeblich ganz zu Hause war. Eine
gespaltene Welt: Katholizismus gegen
Protestantismus, Dorf gegen Stadt,
Bauern gegen Bürger. Aber über
diese Spaltung wurde nicht gespro-
chen, das war tabu, man wollte nicht
auffallen. Etwas wie ein Zuhause
habe ich erst später für mich in Berlin
gefunden.
Mit Ihrem Roman sind Sie sozusagen
das Sprachrohr für all diejenigen,
die ähnliche Erfahrungen als Kinder
oder Enkel von Vertriebenen ge-
macht haben. War das Ihr Anliegen?
Es ist unsere Aufgabe, sich
mit diesem Aspekt der Geschichte
auseinanderzusetzen. Wir sehen uns
heute mit Millionen von Flüchtlin-
gen konfrontiert und halten selbst
den Schlüssel für einen gelingenden
Umgang mit ihnen in der Hand. Wie
1945 und später fühlen sich auch
heute Flüchtlinge gedemütigt. Einem
Grenzraum wie Usedom kommt
dabei große Bedeutung zu. Es wird
uns dazu befähigen, mit Flüchtlingen
umzugehen, wenn wir in unseren
eigenen Familien die Erinnerung an
derartige Erfahrungen zulassen. Meist
mischt sich das: da waren jene, die
kamen und Hilfe brauchten, und jene,
die schon da waren – und geben
wollen, sollten oder mussten. Es ist
extrem hilfreich, wenn man sich bei-
de Seiten vorstellen kann. Dann ist
auch klar, dass beide Seiten Hilfe und
Rat brauchen.
Die Usedomer Literaturtage nähern
sich literarisch der Geschichte
Deutschlands und seiner östlichen
Nachbarn an und versuchen dabei,
Brückenbauer zu sein. Flucht,
Vertreibung und Heimat sind dabei
wichtige Themen, die aus unter-
schiedlicher Sicht beleuchtet wer-
den. Wie wichtig ist diese gemein-
same Geschichtsaufarbeitung durch
die Literatur in Ihren Augen?
Eine Folge des Krieges und
der Nachkriegszeit ist, dass wir das
Wissen darum verloren haben, was
Mitteleuropa war: ein Raum voller
Geschichte und Multikulturalität,
verschiedenste Ethnien, zahlreiche
Traditionen und Sprachen, Sinn für
Schönheit, gutes Essen und Humor.
Ein Teil unserer Identität – begraben
unter den Ideologien des Nachkrie-
ges. Ich sehe es in keiner Weise ein,
mir diesen Aspekt meiner Identität
weiterhin rauben zu lassen.
Zurzeit leben Sie in England. An
der traditionsreichen University of
Oxford, wo Sie auch schon studiert
haben, sind Sie als Dozentin tätig.
Was machen Sie dort während
dieses akademischen Jahres?
Ja, ich bin mit 21 Jahren dank
eines Stipendiums nach Oxford
gekommen, wo ich zunächst Jura
studierte. Doch mein Herz schlug
für die Literatur. Ich schloss eine Art
‚Studium generale‘ an, studierte Ger-
manistik und Anglistik, und begann,
Literatur zu schreiben. Nun bin ich
hier als ‚Poet in Residence‘. Ich darf
meine Arbeit machen, also schreiben.
Ich suche Gespräche mit Zell- oder
Gehirnforschern, höre Vorträge zur
Stringtheorie der Physik, diskutiere
über mittelalterliche Epen, beobachte
unsere englischen Nachbarn, was
sich in meinen Englischen Briefen auf
www.zeit.de/freitextniederschlägt.
Ich denke über Kurt Schwitters Exil
in England nach und verfasse einen
Reiseführer zu London: Fotos und
Texte zu 77 Orten der Stadt, der
nächsten Herbst erscheint.
Mit dem Usedomer Literaturpreis
ist neben einem Preisgeld von 5.000
Euro auch ein vierwöchiger Aufent-
halt auf Usedom verbunden. Haben
Sie schon einen Termin im Auge?
Ich werde im August 2016 direkt
von Oxford auf die Insel Usedom
reisen. Ich freue mich sehr darauf.
Am Meer öffnet sich mir immer der
Kopf. Und die Ostsee gehört zu mei-
nen Lieblingsmeeren: die Farben, der
Wind, die raue Lieblichkeit. Letztes
Jahr erschien ein Buch von mir zu
Hiddensee.
Werden Sie die Tage auf Usedom
auch für Ihre schriftstellerische
Arbeit nutzen?
Unbedingt. Diese Zeit ist ein
Geschenk. Sie öffnet innere Räume.
Ich möchte auf Usedom an meinem
nächsten Roman arbeiten. Er setzt
das Thema der ‚Sieben Sprünge‘
fort, seine Figuren sind polnisch und
deutsch, die Schauplätze eine polni-
sche und zwei deutsche Städte sowie
eine polnische Grenzlandschaft. Ich
werde hier sein und zuhören, beob-
achten, mich anregen lassen.
Ulrike Draesner, eine der profiliertesten deutschsprachigen Autorinnen, erhielt den Usedomer
Literaturpreis 2015 für ihren Roman ‚Sieben Sprünge vom Rand derWelt‘. Im Interview schildert
sie die Kraft der Erinnerungen und die Beziehung zwischen Literatur und Historie.
Aufgezeichnet von
Dietmar Pühler
Literatur als Brückenbauer
Ulrike Draesner wurde am 20. Januar 1962 in
München geboren. 1995 erschien ihr erstes Buch,
der Gedichtband ‚gedächtnisschleifen‘. 1996 zog
Draesner nach Berlin, wo sie heute als Dichterin,
Prosaautorin und Essayistin lebt. Sie übersetzt aus
dem Englischen, gibtWorkshops, Seminare und
Poetikvorlesungen. Für ihrWerk erhielt sie bereits
zahlreiche Preise und Stipendien.
Sieben Sprünge
vom Rand
der Welt
Roman
Luchterhand 2014,
21,99 €
„Am Meer öffnet sich
mir immer der Kopf. Und
die Ostsee gehört zu
meinen Lieblingsmeeren:
die Farben, der Wind, die
raue Lieblichkeit.“
Fotos Seite 66 und 67: PR, ©Marie-Lisa Noltenius
66 | Usedom Magazin
67 | Usedom Magazin