

Ankerplatz
Lüttenort
Zwischen Zempin und Koserow stoßen Achterwasser und Ostsee
an einer Stelle fast aufeinander. Dort erbaute sich der Maler Otto
Niemeyer-Holstein sein Refugium. Ein faszinierender Ort, der noch
heute von einem außergewöhnlichen Menschen und Künstler er-
zählt und in dem sich deutsche Geschichte widerspiegelt.
Text
Martina Krüger
Fotos
Dirk Bleyer & Aneta Szydlak
Da staunten die Insulaner nicht schlecht – ein Berliner
S-Bahnwagen mitten auf der Straße und Dutzende bemüh-
ten sich, ihn fortzubewegen. Eisenketten rissen, Schiffstaue
ließen die davor gespannten Traktoren wie ein Pferd in
die Höhe ragen – aber der acht Tonnen schwere Koloss
bewegte sich nicht. Nur mit Manneskraft und Schmier-
seife ließ er sich zentimeterweise bewegen. Als die Polizei
drohte, ihn einfach beiseite zu räumen, hieß das Kommando:
„Zurück zum Bahnhof Zempin.“Wieder lagen 1,5 Kilome-
ter zwischen demWaggon und dem Bestimmungsort, dem
„Lüttenort“. Schließlich hatte die Eisenbahnverwaltung ein
Einsehen, lud ihn auf und transportierte ihn per Schiene bis
kurz vor seinen Bestimmungsort. Als das Vorhaben erfolg-
reich beendet war, wurde mit den Zempinern und Kosero-
wern gefeiert und musiziert.
Das war im Jahre 1933. Otto Niemeyer-Holstein und seine
Frau Annelise, der „Käpt’n“ und sein „Steuermann“, fliehen
praktisch aus dem in jeder Hinsicht brodelnden Berlin. Er
ist Künstler, 36 Jahre alt, kann bereits einige Ausstellungen
vorweisen, aber in Berlin verkauft er kaum ein Bild. Die
Stadt ist hektisch, stickig und die Nationalsozialisten werden
immer unverfrorener. Dies ist kein Ort für einen Menschen
und Maler, der die Harmonie und die Natur liebt.
Mit dem „Lütten“, einem Se-
gelboot , ist er ab und zu nach
Usedom unterwegs – und die
schmalste Stelle der Insel zwi-
schen Achterwasser und Ostsee
wird irgendwann zu seinem
Refugium. An einer einsamen
Weide macht er den „Lütten“
fest und tauft das kleine Areal
„Lüttenort“ – also der Ort des
Lütten. Dass sich Niemeyer-Hol-
stein als erstes Quartier einen
S-Bahnwagen hinstellt, ist durchaus keine Künstlermarotte,
sondern zu dieser Zeit die billigste Unterkunft, die man
erwerben kann. Der Ort, an dem er siedelt, wird größer
und üppiger. Es wird angebaut, eindrucksvoll verschachtelt
und neu gebaut, wie zum Beispiel das „tabu“, sein Atelier.
Aber auch Bäume und Blumen sprießen überall. Später
lassen Arbeiten von Bildhauern, wie Fritz Cremer,Waldemar
Grzimek, Jo Jastram und anderen hier einen eindrucksvollen
Skulpturen-Garten entstehen.
Mit seinen Arbeiten orientierte er sich nie am aktuellen
Zeitgeist, dafür hielten ihn einige für altmodisch. Sein Stil
schwebt zwischen Expressionismus, Neuer Sachlichkeit und
Rembrandt. „ONH“, wie er seine Bilder signierte, fand in
der Natur sein Sujet, später auch im Akt und der Porträt-
malerei. Seine Bilder sind ungemein sinnlich, vital und kraft-
voll. Es besteht keine Barriere zwischen Bild und Betrachter.
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